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Biografische Zeittafel

1962-1967
Matthias Holst wird am 17.05.1962 als erstes Kind von Elisabeth Holst (geb. Schreiber), Verwaltungsangestellte an der Sektion Sportwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), und Günther Holst, wissenschaftlicher Assistent am Englischen Seminar der MLU und später Dozent an der Technischen Hochschule Merseburg, in Quedlinburg geboren. Er wächst zunächst bei seinen Großeltern in Gernrode/Harz auf, wohnt dann bei seinen Eltern in Halle/S. am Robert-Franz-Ring 13a.

1968-1978
1968 wird Holst in die POS „Talamt“ eingeschult. 1969 kommt Bruder Jens-Christian zur Welt. Im darauffolgenden Jahr verzieht die Familie an den Thälmannplatz 7. Ab der 5. Klasse besucht Holst die POS „Georgi Dimitroff“; von hier wird er nach Abschluss der 8. Klasse zur EOS „August Hermann Francke“ delegiert. Aufgrund der gezeigten schwachen Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern erfolgt bereits nach einem Jahr die Rückdelegierung. 1978 schließt Holst seine schulische Ausbildung mit dem Prädikat „gut“ ab.

1978-1980
Im September 1978 beginnt Holst eine Lehre als Baufacharbeiter beim VEB Straßen-, Brücken- und Tiefbaukombinat Halle. Nach dem befriedigenden Abschluss 1980 wird ihm vom Meister empfohlen, sich um eine andere Arbeit zu bemühen: „Zu lang, zu dünn, zu schlaksig, und irgendwie scheint sein Gemüt nicht unbedingt auf einen Bau zu gehören.“

1981-1983
Bis November 1981 ist Holst noch als Baufacharbeiter tätig, dann kündigt er und arbeitet von Januar bis Juni 1982 als Zusteller bei der Deutschen Post. Nach Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses bewirbt er sich um eine Stelle als Hilfskraft an der Universitäts- und Landesbibliothek der MLU, wo er ab dem 05.07.1982 im Zeitschriftenlesesaal tätig ist. Dort hat er Zugriff auf den Schlüssel zum Verschlussraum für ‚Sperrliteratur’, den sogenannten ‚Giftschrank’, der literarische und wissenschaftliche Werke enthält, die in der DDR offiziell verboten oder zumindest suspekt sind. Holsts besonderes Interesse gilt dem Anarchismus sowie der literarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Seine Lektüreerfahrungen notiert er auf zahllosen Zetteln, die wichtige Grundlage der eigenen Textproduktion werden.
Im Frühjahr 1981 bekommt er Kontakt zur Jungen Gemeinde Halle-Neustadt um Diakon Lothar Rochau, beteiligt sich an zahlreichen Umwelt-, Menschenrechts- und Friedens-Aktionen, z. B. am Friedensforum, am „Fasten für den Frieden“ (Halle und Berlin), an einer Radtour anlässlich des Weltumwelttages zu den Chemiewerken von Leuna.
Holst nimmt an Diskussionen und Lesungen in den diversen existierenden Hauskreisen teil, liest dort aus pazifistischen und anarchistischen Schriften, später auch zunehmend eigene Texte.
Nach der Auflösung der JG Halle-Neustadt und der Verhaftung von Lothar Rochau wird die Christusgemeinde um Pfarrer Siegfried Neher zu einer Anlaufstation von Holst, der hier die sich ihm bietenden Freiräume der „offenen Arbeit“ nutzt.
Der Spitzname BAADER oder BADER geht wohl auf Holsts Sympathien für die Baader-Meinhof-Gruppe sowie auf die vom ihm vertretenen anarchistischen Positionen zurück und bleibt, sicher eher ironisch gemeint, an ihm haften. (Das MfS attestiert Holst jedoch eine tatsächliche Neigung zu Gewalttätigkeit; so sei von ihm z. B. der Vorschlag gekommen, aus Rache für die Auflösung der JG ein Tanklager der NVA in der Heide zu sprengen.) Eine andere ‚Theorie’ besagt, dass der Name lediglich von einem Bad in einem Brunnen herrühre.
Ende des Jahres 1982 zieht Holst dauerhaft aus der elterlichen Wohnung aus und quartiert sich in einer Wohngemeinschaft in der Kleinen Ulrichstraße 3 ein; ab Ende Juni 1983 bewohnt er zwei Zimmer einer von den Eltern angemieteten Teilwohnung in der Krukenbergstraße 28.
1982 rückt Holst als Träger pazifistischen und anarchistischen Gedankengutes ins engere Blickfeld des MfS. Im Juli 1983 wird gegen ihn die Operative Personenkontrolle (OPK) „Ullrich“ eingeleitet.
Auftritten bei Wohnungspartys folgen erste öffentliche Lesungen und Aktionen vor allem in Kirchenräumen, zunächst gemeinsam mit Jens Asche, später mit Peter Winzer oder Heiko Beige (Gitarre).
1983 legt er an der Volkshochschule das Abitur in Deutsch und Russisch ab. Im Rahmen von Zersetzungsmaßnahmen gegen den Kreis um die JG Halle-Neustadt ist vorgesehen, Holst kurzfristig zur NVA einzuberufen. Der Aufforderung zur Einberufungsuntersuchung am 20.09.1983 kommt er nicht nach und verweigert mit Schreiben vom 18.09.1983 den Wehrdienst. Diese Totalverweigerung wird Anfang 1984 den Eltern zuliebe, die die Inhaftierung ihres Sohnes fürchten, zurückgenommen; Holst erklärt sich nun bereit, waffenlos als Bausoldat seinen Wehrdienst abzuleisten.

1984-1987
Anfang 1984 unternimmt Holst aufgrund einer gescheiterten Beziehung einen Selbstmordversuch.
Die Lesungsauftritte werden zahlreicher, finden zunehmend auch außerhalb von Halle statt. Gelegentliche Texteinsendungen an diverse offizielle Literaturzeitschriften und -verlage werden ausnahmslos abschlägig beschieden.
Über den Kontakt zu Uwe Warnke in Berlin, der seit 1982 eine literarische Untergrundzeitschrift herausgibt, kann Holst 1985 in zwei Nummern des Entwerter/Oder insgesamt drei Texte platzieren.
Gemeinsam mit Peter Winzer gibt er zunächst Kein Reich komme, kein Wille geschehe…, ein Textheft mit eigenen Arbeiten der beiden, heraus; im September begründet er, ebenfalls mit Winzer, die Literaturzeitschrift GALEERE, die von September 1985 bis Februar 1986 in drei Nummern erscheint und nach behördlichem Verbot eingestellt werden muss. Beide Herausgeber werden mit einer Ordnungsstrafe von 300 Mark belegt. Vom MfS wird die OPK „Barkasse“ eingeleitet; gegen die an der GALEERE beteiligten Studenten der Hochschule für industrielle Formgestaltung Halle/Burg Giebichenstein (HiF) wird ein Disziplinarverfahren eröffnet, das mit einem strengen Verweis und der Androhung der Exmatrikulation endet. Peter Winzer verliert seinen Job als Modell an der HiF.
1986 wird Holst als Nichtwähler ‚registriert’. Im gleichen Jahr erwirbt er im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung das Facharbeiterzeugnis als Bibliotheksfacharbeiter.
Im Mai 1987 gründet sich anlässlich einer Ausstellungseröffnung von Moritz Götze in der Gosenschänke die Band Die letzten Recken (Jan Möser, Markus Stauffenberg, Robert Hieber). Holst schreibt Texte für die Recken und tritt in der Folgezeit als deren Sänger auf.
Holst beteiligt sich an einer von Moritz Götze herausgegebenen Mappe mit Arbeiten junger DDR-Künstler.

1988-1990
Holst unterzeichnet das Protestschreiben an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR (29.01.1988) mit, in dem die sofortige Freilassung aller Inhaftierten der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration vom 17.01.1988 gefordert wird. Zum 07.03.1988 erfolgt seitens des Wehrkreiskommandos die Einbestellung zur Einberufungsüberprüfung. Holst wird nochmals aufgefordert, seinen Antrag auf Ableistung des Grundwehrdienstes als Bausoldat zu begründen. Die Einberufung in ein Eisenbahnbauregiment ist für Ende April 1988 geplant. Am 16.03.1988 erneuert Holst seine Totalverweigerung vom 18.09.1983 und weist auf seine Unterstützung der Initiative „Sozialer Friedensdienst“ hin.
Er beteiligt sich an Aktivitäten zum Aufbau und der Organisation eines „Regionalkreises Halle“ des Zusammenschlusses „Freundeskreis Totalverweigerer“.
Im Frühjahr 1988 kommt es zum ersten Zusammentreffen von Holst und Peter „Sc.Happy“ Wawerzinek. Wawerzinek, der auf der Suche nach einem Dichter ist, „wo es Paroli gibt, wo auch wirklich ’ne Gegenwehr ist“, besucht auf einen Hinweis von Lutz Nitzsche Kornel hin Holst in Halle und versucht ihn dazu zu bewegen, Halle zu verlassen und mit ihm nach Berlin zu kommen.
Holst kann ein psychiatrisches Gutachten der Universitätsklinik (vom 18.04.1988) beibringen, welches ihm eine Nichteignung für jeglichen Wehrdienst bescheinigt. Das Attest wird als „Gefälligkeitsgutachten“ gewertet, gegen den Gutachter werden disziplinarische Maßnahmen eingeleitet. Ein nochmaliges Gutachten (vom 19.08.1988), das zumindest die Tauglichkeit zum Wehrersatzdienst ab Oktober 1988 feststellen soll, wird angefertigt und kommt zu dem Schluss, dass keinesfalls ein Dienst an der Waffe erfolgen kann, eine Tauglichkeit zum Wehrersatzdienst jedoch gegeben sei.
Holst verlässt Halle, ohne Freunde und Eltern zu informieren, taucht in Berlin unter und kündigt per 29.08.1988 sein Arbeitsrechtsverhältnis als Bibliothekar ohne Absenderangabe. Er wohnt zunächst in der Oderberger Straße 4, später in einer „lesbo päderasto an-ARCH:o afro-jüdischen“ Wohngemeinschaft in der Anklamer Straße 8.
Aufgrund der im psychiatrischen Gutachten festgestellten Suizidgefährdung von Holst wird durch die staatliche Leitung der MLU eine Vermisstenanzeige erstattet; er wird durch die Deutsche Volkspolizei am 16.09.1988 zur Fahndung ausgeschrieben.
Am 30.10.1988 wird Holst, von einer Lesung im Studentenclub „Kellertheater“ Magdeburg kommend, auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg durch eine Streife der Transportpolizei einer fahndungsmäßigen Kontrolle unterzogen und, da die bereits erfolgte Aufhebung der Fahndung nicht bekannt ist, sechs Stunden lang festgehalten. Sämtliche mitgeführten Texte (insgesamt 80 Blatt) werden beschlagnahmt. Holst protestiert an verschiedenen Stellen vehement gegen die Einziehung seiner Texte, die für ihn „Lebensgrundlage“ und Versuch sind, „innerer Verwahrlosung“ zu entgehen. Am 03.11.1988 berichtet die FAZ über den Vorfall.
Bei dem von Thomas Krüger und Thorsten Schilling erstmals im November 1988 in der Galiläa-Kirche inszenierten Theaterprojekt Befriedet, einer szenischen Collage zu Hugo Distlers Totentanz, interpretiert Holst Textpassagen von Thomas Brasch und Antonin Artaud.
Seit Holsts ‚Umzug’ nach Berlin arbeitet er eng mit Peter „Sc.Happy“ Wawerzinek zusammen. Beide finden keinen Einlass in die fest gefügten Kreise der sogenannten Untergrund-Literatenszene am Prenzlauer Berg und so nomadisieren sie durch die DDR-Provinz, wo sie durch Mundpropaganda bald einen höheren Bekanntheitsgrad haben als in der Hauptstadt. Ihr Publikum finden sie vor allem in Kneipen und auf Partys, bei nächtlichen Spontanaktionen und Stegreif-Vorträgen, auf Ausreisefeten, Hochzeitsfeiern, Gartenhauseinweihungen: „Das Interesse war immer so: Statt gegrillte Bockwurst kommt jetzt Lyrik.“ (Wawerzinek).
Holst publiziert in verschiedenen Untergrund-Zeitschriften (Liane, Entwerter/Oder, Bizarre Städte), ist auf ebenfalls im Selbstverlag produzierten Kassetten-Editionen vertreten; seine erste offizielle Veröffentlichung erfolgt (ohne Nennung der Autorschaft) in Temperamente. Blätter für junge Literatur, Heft 5/1989.
Im April 1989 entstehen Künstlerbücher mit Jörg Herold sowie der Super-8-Film Baader in Leipzig; im Juli gründet sich die Formation Frigitte Hodenhorst Mundschenk (Bo Müller, Flake Lorenz, Klaus „Maus“ Weiner, Reimo Adler), Holst wird deren Texter und Frontmann.
Holsts Textsammlung zwischen bunt und bestialisch: all die toten albanier meines surfbretts erscheint – von Moritz Götze als Künstlerbuch realisiert – im April 1990 im Hase Verlag Halle.
Am 15.06.1990 unterschreibt Holst für traurig wie hans moser im sperma weinholds seinen ersten Buchvertrag beim PRODUZENTEN-VERLAG Berlin und erhält ein Autorenhonorar von 500 Mark.
Im Juni finden Dreharbeiten zu dem Video Briefe an die Jugend des Jahres „2017“ statt, welches dem Buch zur Seite gestellt werden soll.
Die Veröffentlichung von Buch und Video erlebt Holst nicht mehr.
Am 24.06.1990 wird „Matthias“ BAADER Holst, zurückkehrend vom „Schmiedefest“, der Werkstatteinweihung des Bildhauers Ernst Petras in Neuenhagen bei Berlin, gegen 5 Uhr morgens in der Oranienburger Straße/Ecke Friedrichstraße von einer Straßenbahn angefahren. Er hat keine Papiere bei sich, kann zunächst nicht identifiziert werden. Am 30.06., dem letzten Tag der DDR-Mark, stirbt er um 8.10 Uhr an den Folgen seiner schweren Kopfverletzungen anonym in der Berliner Charité. Erst jetzt nimmt die Polizei anhand der bei ihm gefundenen Einladungskarte Ermittlungen zur Person auf; eine Identifizierung erfolgt Tage nach Holsts Tod.
Die Trauerfeier findet am 24.07.1990 in Berlin statt, die Urne wird später auf dem Gertraudenfriedhof in Halle/S. beigesetzt.

Tom Riebe

 

 
   

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